Ilja Zaharov
Kriz Olbricht ist seit über einem Jahrzehnt ein scharfer Beobachter urbaner Lebensräume und der architektonischen Strukturen und Anomalien, die sie konstituieren. Diese Beobachtungen bilden einen Grundpfeiler seiner künstlerischen Praxis, die sich oft als subtil wirkende, ortsspezifische Interventionen in Architekturen manifestiert. Seine Interventionen sind eine paradoxe Gratwanderung zwischen Anpassung und Eingriff in räumliche Gefüge, die die Konstruiertheit und Zerbrechlichkeit des Alltäglichen offenlegen.
Etwas spielt sich im Inneren ab, doch die Einsicht bleibt uns verwehrt, denn die Türen der Kaiserwache sind abgeriegelt. Entsprechend weist uns Fountain (engl. für Brunnen, Quelle und Fontäne) auf einen anderen Weg. Das Solitär nimmt uns regelrecht an die Hand, wenn wir es umkreisen. Es führt uns herum und das nicht schweigend. Es spricht ausführlich und erzählt nicht bloß von sich selbst, sondern auch von einem anderen Ort. Von einem Ort, für den die Kaiserwache zum Resonanzkörper und Ort der Verbindung und des Widerhalls wird. Denn auch wenn dieser Ort für sich sprechen kann und er es ausgiebig tut, braucht er ein Echo der Reflexion. Gerade der Widerhall gibt uns die benötigte Distanz wirklich zu hören, was gesagt wird.
Fountains Echo führt uns in die Weiten und Tiefen des Rheinischen Braunkohlereviers. Hier, wo die Erde von Jahrhunderten des Kohleabbaus durchdrungen ist, erklingt ein gewaltiges Dröhnen, das Aussagen zufolge schon Dekaden lang denselben Rhythmus angibt. Es ist nur eines von vielen in dieser Region und hat wie jedes Geräusch eine Geschichte zu erzählen, wenn man nur genau hinhört. Hören wir genauer hin. Ein tiefes Grollen, ein gutturaler Schrei aus dem Erdinneren, der wortwörtlich den Boden zum Beben bringt. So auch die Kaiserwache. Sie pulsiert, ihr Inneres streckt sich nach außen, und wenn unsere Hand die vibrierende Außenfassade berührt, spüren wir die verborgenen Interaktionen zwischen Mensch und Ort, die uns selbst zu Resonanzkörpern dieses Bebens verwandeln. Es bebt und grollt fast unaufhörlich. Ich sage „fast“, denn die Sümpfungspumpe, die den Ursprung dieses Getöses bildet, erlaubt sich regelmäßig kurze Verschnaufpausen. Während dieser Ruheperioden wird das stetige Plätschern, das sich in die Klanglandschaft mischt, besonders merklich. Lästiges Wasser ist zu hören, Grundwasser, das ein Hindernis für den Bergbau darstellt und entsprechend abgepumpt werden muss. Eine Erinnerung an die unausgesprochenen Auswirkungen des Bergbaus. Dröhnen und Plätschern alternieren. Dieses Geräusch kostet. Kostet den Grundwasserspiegel. Kostet enormen Energieverbrauch. Kostet Flora. Kostet Fauna. Kostet umliegende Gemeinden. Es bleibt abzuwarten, auf welche Summe sich das alles belaufen wird und natürlich, wer die eigentliche Rechnung begleichen wird. Das ist es, was uns das Dröhnen erzählt, während wir mit einem Bein in Freiburg und dem anderen in der Kölner Bucht stehen. Gewiss bleiben uns bestimmte Aussagen unverständlich, das stellt sich als Bedingung heraus, um bloß eine bruchstückhafte Kommunikation zu gewährleisten. Was unter Tage erzählt wird, klingt für uns Oberflächenbewohner*innen wie Kauderwelsch. Deshalb sind die Geschichten, die wir vernehmen können, zwangsläufig oberflächlich. Eher Symptome als Ursachen.
Fountain ist ein Ruf, der umhergeistert: ein Echo. Ein Echo ist ein Phantom, anwesend und abwesend zugleich; eine Tonaufzeichnung. Somit ein Echo auf Kommando, das Olbricht in einem kontinuierlichen Loop wiedergeben lässt und der für die Dauer der Ausstellung fortbesteht. Aber wir hören mehr als nur das Phantom einer Pumpe, der Klang von Fountain ist polyphon, denn die Dreisam und der Verkehr an der nebenliegenden Kreuzung haben ebenfalls etwas zu erzählen. Wir hören vieles zugleich, manchmal Harmonien, andermal Kakophonien. Je nach Uhrzeit und Entfernung des Gebäudes tönen die Zwiegespräche zwischen der KW und ihrer Umgebung verschieden. Mittags singt die Stadt am schönsten. Wir hören ein wechselseitiges Lied. Ruf und Antwort. Die Stadt singt von Entfremdung und von Mechanismen der Selbstregulation. Tiefste Töne von Kontrolle und Struktur. Ein industrielles Lied, das nach Verwertungslogik klingt. In einem trunkenen Tanz folgen wir dem Takt der konsumorientierten Stadtvermarktung. Doch die KW antwortet mit einem Ruf nach dem Recht auf Stadt.1 Ihre Fassade spricht in illegalen Farben, Sprayer hinterlassen ihre Botschaften. Der Raum wird zweckentfremdet, erzählt von verborgenen Bedürfnissen und neuen Bedeutungen. Wir hören Fountain wie eine Fanfare.
Eine weitere Geschichte, die Fountain erzählt, handelt von der Kaiserwache als einer Insel. Eine Insel im Archipel des Rheinischen Reviers, doch sie hat sich treiben lassen, weit über die Kölner Bucht hinaus. Wie Gilles Deleuze treffend bemerkte: „Eine Insel ist eine Konzentration von Land an einem Punkt im Raum, die sich von seinem Umland abhebt.“2 Dieser Definition folgend erhebt sich die KW auch anderweitig als eine Insel, nämlich als eine gestaltete Form inmitten des urbanen Gefüges. Eine architektonische Anomalie, hier im Zentrum des Asphalt- und Beton-Meers, das wir als zentrales Freiburg erkennen.
Die täglichen Menschenströme, die an ihr vorbeifließen, schenkten ihr wenig Beachtung, aber mit Fountain zeigt sich das Solitär in einem neuen Licht und einer verstärkten Stimme. Wir lassen uns erneut um den Bau führen. Langsam. Als würden wir die Küste der Insel entlang treiben. Plötzlich merken wir, dass sich das Licht im Inneren eingeschaltet hat. In der Dämmerung wirkt es, als ob jemand im Inneren gerade erwacht sei. Doch wir sind es selbst gewesen, die den Schalter betätigt haben. Bewegungsmelder reagieren auf unsere Anwesenheit und aktivieren die Beleuchtung in kurzen Intervallen.
Während Inseln oft als abgeschiedene Orte betrachtet werden, die fern von den Strömungen des Alltagslebens liegen, offenbart Fountain eine subtile Verbindung zur Welt um sie herum. Ähnlich wie eine Insel von den Gezeiten beeinflusst wird, so wird Fountain von den Geräuschen und Bewegungen der Stadt beeinflusst, die sie umgeben. In diesem Dialog zwischen Mensch und Raum, bei dem die Bewegung der Treibenden die Atmosphäre und Wahrnehmung des Ortes verändert, wird ein neuer Bezug zum Phantom der Pumpe hergestellt. Und zwar finden sich der Anfang und das Ende der Kohle-Wertschöpfungskette in der Kaiserwache symbolisch wieder. Einerseits findet sich hier der Ursprung im Wasser-Abpumpen, als erster Schritt des Extraktions-Verfahrens von Kohle, in Form des basslastigen Dröhnens. Andererseits findet sich hier auch das Resultat aus der zu Elektrizität verarbeiteten Kohle, der veranschaulichte Stromverbrauch durch die Einschaltung der Innenbeleuchtung. Der Kreis schließt sich. Wir sehen, das Licht im Inneren geht wieder aus und wir treiben weiter.
Wir biegen um die Ecke und bemerken einen dunkelblauen Schlauch mit einer Schnellkupplung, der in der verschlossenen Eingangstür zur ehemaligen „Männertoilette“ eingeklemmt ist. Die KW steht auf dem Schlauch. Wir nehmen Distanz und fragen uns kurzzeitig, ob die ausgehärtete Asphaltpfütze auf der wir stehen, nicht aus diesem Schlauch gelaufen sein könnte. Wohl eher nicht. Doch was sollte aus diesem Schlauch stattdessen hervortreten? Und wohin würde der Schlauch uns führen; etwa in die Tiefe?
Fountain, 2024
1. Das „Recht auf Stadt“ ist ein Konzept, das von Henri Lefebvre entwickelt wurde. Es bezeichnet das kollektive Recht der Bürger, aktiv an der Gestaltung und Nutzung des städtischen Raums teilzunehmen. Es umfasst das Recht auf Zugang zu städtischen Ressourcen, Mitbestimmung sowie eine vielfältige, lebenswerte und gerechte Gestaltung der Stadt. Das Konzept stellt eine Kritik an der Kommodifizierung und Privatisierung des städtischen Raums dar und fordert eine stärkere Einbindung und Berücksichtigung der Bedürfnisse aller Stadtbewohner, insbesondere der sozial und wirtschaftlich Benachteiligten.
2. Gilles Deleuze, Claire Parnet. Dialogues II, 2002, Columbia University Press, Kapitel 3 (dt. Übersetzung).
Text zur Ausstellung Fountain, Kaiserwache, Freiburg, 2024.