Dietrich Roeschmann
Bass
Orte bringen Bilder hervor. Zum Beispiel: Das Garagentor auf der Ladefläche eines parkenden Kleintransporters. Ein weißes Betondisplay auf weißer Betonwand. Eine Kinoleinwand auf einer Wiese.
Oder auch: Gittertore, Stahlrollladen, Schutzwände vor Geschäften in Genua, eingedrückt von den Wassermassen der Torrente, die nach heftigen Regenfällen aus den Tälern des Appenins in die Stadt stürzen. Als Bilder erzählen diese verbeulten Tore von Kräften, die auf ihr Material wirkten und sie formten. Sie erzählen von der Komplexität physikalischer, ökonomischer, sozialer und städtebaulicher Dynamiken und ihrer Effekte auf die Form. Und sie erzählen vom Zufall als bildgebendem Verfahren.
Für Kriz Olbricht ist das Sichtbarmachen von solchen Kräften, die drücken, halten, klemmen, stützen, die tragen, pressen oder spannen, ein zentrales Thema seiner Arbeiten. Ihre Aura ist die Gravitation. Sie ist der Bass, der ihnen das Fundament gibt. Offensichtlich wird das, wenn Olbricht zentnerschwere Betonsockelfragmente auf Gummimatten im Ausstellungsraum platziert und mit dicken Gewindestangen im Boden verankert. Bass, how low can you go? Spürbar wird diese Kraft aber auch dort, wo lediglich ein handelsüblicher Regalwinkel zum Einsatz kommt, einzeln unter den Vorsprung einer Decke geschraubt, als würde er das ganze Haus tragen. Oder wenn ein simpler, mit stabilen Halterungen in Wand und Boden befestigter Spannhaken suggeriert, allein durch Zugkraft den Raum und seine Teile zusammenzuhalten.
Reduzierte Gesten wie diese entfalten einen unerwarteten Sog in die Tiefe und sorgen für vielfältige Kippmomente, wirken mal komisch, mal fürsorglich engagiert, mal spektakulär wie eine Bodybuilder-Zirkusnummer oder völlig banal – ein Winkel in der Wand, nicht mehr, nicht weniger.
Ungeachtet dessen aber eint sie vor allem eines: Sie machen Statik, Druck oder Zug als Raum konstituierende Kräfte erfahrbar. Ihre stille Wucht liegt oft in der Konzentration auf den Punkt, an dem alle Energie kulminiert – auf das schmale rote Alublech etwa, das sich von jenem Mauervorsprung spreizt, an dem es unter enormem Zug von einem straff durch den Raum gespannten Stahlseil gehalten wird. Oder auf das zusammengefaltete Handtuch, mit einer im Boden verankerten Armierstange an die Wand geklemmt als Objekt, das sowohl auf die Möglichkeiten eines erweiterten Malereibegriffs verweist als auch Betrag, Richtung und Angriffspunkt der hier wirkenden Kraft effizient ins Bild setzt. Und manchmal fallen Gravitation und Bewegung zusammen, um den Blick für den Ort in die Weite zu öffnen und umgekehrt, die Landschaft in den Raum zu holen. Für seine Werkgruppe Agraffe etwa trägt er an jedem Ort, an dem er zu einer Ausstellung eingeladen ist, vom Ufer des nächstgelegenen Gewässers den schwersten Stein, den er gerade noch tragen kann, in den Kunstraum und verankert ihn mit einer Stahlklammer im Boden.
Agraffe, 2019
In der Popmusik hat der Bass schon immer eine zugleich körperliche und bewusstseinserweiternde Dimension. Die riesigen, selbstgebastelten Lautsprecherarchitekturen der Reggae- und Dub-Master der 1970er Jahre zeugten von der Obsession, der Vorstellung eines ganz bestimmten Bass-Sounds so nahe zu kommen, dass er den realen Körper in exakt der imaginierten Weise auch im wirklichen Leben zum Beben bringen würde. Man kann darin das fortgesetzte Experiment sehen, dem scheinbar Immateriellen – der Bassfrequenz – eine körperlich erfahrbare Form zu geben, dem Vibrieren der Dinge ähnlich oder dem Kribbeln im Magen beim Blick in den Abgrund. Bass kreiert Raum und Zeit, Tiefe und Schwere – und triggert dabei ein paradoxes Gefühl von Stabilität im permanentem Fluss.
In den ortsspezifischen Arbeiten von Kriz Olbricht ist diese Gleichzeitigkeit von Erdung und Diffusion ein wiederkehrendes Motiv. Für die Installation Affatim zum Beispiel verschraubte er mit schweren Gewindestangen vier Holzbalken durch die Wand eines Kunstraums so miteinander, dass sie das Mauerwerk einerseits zu stabilisieren und andererseits wie im Spannstock zu zerdrücken schienen. Die Wand mutierte vom Architekturelement zum Werkstück – und zum Demonstrationsobjekt der potenziell zerstörerischen Kraft, die durch das Anziehen der Schraubenmuttern wirksam werden würde.
Affatim, 2013
Colors
Color to continue had to occur in space
– Donald Judd1
Farbe taucht in Kriz Olbrichts Arbeiten selten als etwas auf, das er auf einen Grund aufträgt – es sei denn, er nutzt sie als Kleister. Er malt nicht, färbt nicht, greift nur hin und wieder mal zur Sprühdose. Stattdessen sind die Farben, die er verwendet, in der Regel gebunden in den Dingen, die er im Alltag vor findet. Rosafarbener Dichtungsschaum aus dem Baumarkt etwa, violettes Glasfasergewebe, Affichenpapier mit blauer Rückseite für den Plakatdruck, das blasse Grün von Gipskartonplatten, ein rotes Handtuch, das gelborange Licht einer Straßenlaterne. Die Eigenfarbigkeit der industriellen Materialien, die Olbricht verwendet, ist konstituierend für seine Arbeiten. Sie korrespondieren mit der Idee des Ortsbezugs, denn Material und Farbe erweisen sich hier als Orte im Sinn eines konkreten vorgefundenen Zustands.
Im Außenraum wird Farbe zur Gestaltung verwendet und zum Herstellen von Ordnung, zur Markierung von Wegen, Grenzen, Funktionen oder Gefahren – oder zur suggestiven Steuerung von Gefühlen wie das als frisch empfundene Blau eines Swimming Pools oder das saubere Weiß einer Hausfassade. Und immer wieder taucht Farbe willkürlich auf, unerwartet, absichtslos, als Farbspur des Corporate Designs eines bestimmten Baustoffes etwa, als sich ständig veränderndes visuelles Echo des sozialen Lebens an Orten, die von vielen genutzt werden, oder als Effekt von Arbeit. Kriz Olbricht setzt Farbe sehr präzise ein, und er tut das oft, um Grenzen zu verwischen. Die bodennah montierte rostrote Stahlplanke im Kunstraum könnte alles sein: bauliche Schutzmaßnahme, Relikt einer früheren Nutzung oder Zustand einer künstlerischen Arbeit, die um die Frage kreist, was genau hier eigentlich zu sehen ist. Handelt es sich um Malerei – oder eher um die Entgrenzung und Diffusion des Malerischen in Material, Architektur und im künstlerischen Prozess?
Sieben Rundhölzer, in unterschiedlicher Höhe in Grün, Rot, Silber und weiteren Farben gefasst, lassen sich an einem Aluminiumprofil mit Klemmhaltern an der Wand frei zu immer neuen Konstellationen sortieren. Tools heißt die Arbeit, die auf einem schmalen Grat zwischen Bild, Objekt und Work in progress balanciert. Im ersten Moment wirken die Hölzer wie Fluchtstäbe zur Landvermessung oder Stiele von Gartengeräten, tatsächlich aber haben sie keine Funktion – außer die, Farben in Bewegung zu versetzen und zu halten, um so konsequent der Versuchung zu entgehen, sie mit Bedeutung aufzuladen.
Stärker noch negiert diesen Wunsch die Arbeit Leger und Träger, die Olbricht mehrfach realisierte. Dafür verlegte er den Garderobenständer, den er im jeweiligen Ausstellungshaus vorfand, in den Kunstraum, wodurch das unscheinbare Funktionsmöbel plötzlich zum Display einer konturlosen, sich in Farbe und Material ständig verändernden Assemblage aus Jacken, Mänteln, Schirmen und Taschen mutierte, arrangiert von den Besucherinnen und Besuchern, die so – oft ohne es zu merken – zu den eigentlichen Akteuren des tradierten Bildprozesses wurden. Mit denkbar einfachen Mitteln führt er hier nicht nur die Erweiterung des Bildbegriffs der Malerei vor, sondern macht die zentrale Bedeutung des performativen Aktes erfahrbar, durch den ein Ding oder Zustand zu Kunst wird, wie Ludger Schwarte in seinem Essay „Politik des Ausstellens“ betont: „Kunstwerke sind ereignishafte Prozesse und keine Produkte.“2
Ein Beleg dafür ist das intensive orangegelbe Licht einer Natriumdampflampe, die Kriz Olbricht an diversen Ausstelllungsräumen installierte. In Anspielung auf die ersten illegalen Rap-Partys im New York der späten Siebzigerjahre zapft er für seine Installation Bronx jeweils die nächste Straßenlaterne vor der Tür des Kunstraums an, in dem er ausstellt. Bricht dann der Abend an, erstrahlt der Ausstellungsort die ganze Nacht über im gekidnappten Licht des öffentlichen Stromnetzes und verflüssigt die Grenze zwischen Innen und Außen.
Break
Break it up, break it up, break it up / Break down
– Kurtis Blow3
Ortsbezogene Arbeiten reagieren auf die räumliche und zeitliche Situation, in der sie entstehen. In der Regel ist ihre Existenz flüchtig. Endet die Ausstellung, verschwinden sie wieder. Denn als kurzfristige Materialisierungen einer bestimmten Idee oder Beobachtung im künstlerischen Prozess fehlt ihnen dann etwas Entscheidendes: der erfahrbare Bezug zum Ort ihrer Produktion, der immer auch der ihrer Präsentation ist. Physisch überdauern solche Arbeiten, sofern sie nicht dauerhaft installiert sind, allenfalls in Gestalt von Relikten, als Modell oder Gedanke dagegen in der Fotografie und der Erinnerung, in der auf unterschiedliche Weise auch die Orte gespeichert sind, durch sie sich konstituiert haben.
Ein Foto zeigt fünf handgeschmiedete Stahlklammern verschiedener Größe, die sich in vertikaler Anordnung locker auf einer weißen Wand verteilen. Der Ortsbezug dieses Arrangements erschließt sich erst aus der Nähe. Die schwarzen Anker folgen dem Verlauf eines feinen Risses, der von der Decke bis zum Boden im Putz verläuft. Sie markieren die kaum wahrnehmbare Spur eines Prozesses, die ihn hervorgebracht haben. Die Klammern scheinen die Mauer vor dem Auseinanderbrechen zu bewahren. Und doch ist es der kaum sichtbare Riss, der ihre Abfolge bestimmt und so auf die dauerhafte Präsenz von Rhythmus verweist, der alle Handlungen und Ereignisse in der Welt strukturiert.
Kriz Olbrichts Arbeit trägt den Titel The Breaks. Im Jazz, Funk und HipHop beschreibt der Break am Ende eines Taktschemas einen Moment der Möglichkeit und der Ungewissheit im sicheren Korsett des Beats. Für einen kurzen Augenblick öffnet der Break die Tür ins Bodenlose und gibt eine Ahnung davon, wie es wäre, wenn der Beat plötzlich ganz aufhörte – bevor er dann doch wieder zurückfindet in die Spur, die Welt, die Körper. So gesehen ist der Break der Bruder des Flow. Ohne Brüche keine Erneuerung, keine Vertiefung, keine Befreiung.
Die Risse, Lücken, Fugen, die Olbricht zum Ausgangspunkt seiner in situ-Arbeiten nimmt, lenken den Blick auf etwas, das Georges Perec das „Infra-Ordinäre“4 nannte – das, was wirklich passiert, abseits des Extraordinären, das Nicht-Außergewöhnliche. Dazu gehört etwa die Architektur, die täglich genutzt wird und sich durch ihren Gebrauch zugleich beständig transformiert, von ihren ursprünglichen Funktionen emanzipiert, auf individuelle Bedürfnisse reagiert, Auf-, Um- oder Abwertung erfährt. Das Bestreben, die Schwelle zwischen Architektur und Alltag einzuebnen und die Dinge passend zu machen, erfordert eine Mischung aus kreativem und pragmatischem Handeln. Olbrichts Arbeiten folgen den Spuren dieses Handelns, machen sie sichtbar und produktiv für den künstlerischen Prozess. Farbiges Papier, das eine Fuge zwischen Mauerwerk und Trockenbauwand füllt, erzählt dann von der Veränderung einer räumlichen Struktur; ein blauer Müllsack, gefüllt mit Schutt vom Ausstellungsaufbau und eingeklemmt in einem unerklärlichen zentimeterbreiten Spalt zwischen Fußleiste und Boden, vom möglichen Fehlen des Belags im Kunstraum.
In seinem „Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen“ notierte Georges Perec: „... nicht nur die Risse sehen, sondern den Stoff (wie aber den Stoff sehen, wenn ihn allein die Risse sichtbar machen?) ...“5 Kriz Olbrichts Interventionen zielen auf je eigene Weise auf diesen Perspektivwechsel. Sie bewegen sich zwischen Malerei, Skulptur und Installation und reflektieren dabei immer zugleich Material, Handlung und Raum als ihre Bedingungen.
Flow
„Bauten werden auf doppelte Weise rezipiert, taktil und optisch“, zitiert Jan Turnovsky den Philosophen Walter Benjamin in seiner legendären „Poetik eines Mauervorsprungs“6. Man könnte auch sagen: in der routinierten Bewegung des Körpers auf dem Weg durch das Haus oder die Stadt, oft beiläufig und unbewusst – und zugleich als visuelles Ereignis, Objekt von Aufmerksamkeit und aktivem Interesse.
Kriz Olbrichts Arbeiten kennen keine Grenze zwischen dem Taktilen und dem Visuellen. Im Gegenteil. Sie zielen auf Schwebezustände und Übergänge, auf die prekäre Balance von Banalität und Sensation, Ärmlichkeit und Eleganz. Auf die fragilen Momente zwischen dem Bestehen und dem Kollabieren und auf Formen, wo Gelingen und Scheitern nicht klar voneinander zu unterscheiden sind. Diese Spannung macht ihren Witz aus – und ihren Ernst. Witz, weil sie das Provisorische in den Blick nehmen, das in seiner lausigen Unfertigkeit oft etwas Slapstickhaftes hat und Erwartung auf den Zusammenbruch schürt. Ernst, weil sie zugleich eine Kultur der Zwischenlösung thematisieren, die vom festen Willen geprägt ist, dem unaufhaltsamen Verfall der Dinge mit immer neuen Vorschlägen zur Weiternutzung, Umnutzung, Zweckentfremdung entgegenzutreten.
Der urbane Raum ist strukturiert durch Flächen und Wege, die sich an der Topografie des jeweiligen Ortes orientieren. Treppen, Rampen und andere Hilfskonstruktionen gleichen die Höhenunterschiede aus. Wo sie fehlen, kommt Bewegung zum Stillstand – manchmal gezielt, zur Regulierung von Verkehrs- und Passantenströmen oder zur Markierung von Grenzen, manchmal willkürlich und ohne Grund. Oder weil sich dort, wo der öffentliche und der private Raum aneinander stoßen, niemand so richtig zuständig fühlt. Ausgleich entsteht dann oft aus der akuten Notwendigkeit heraus, Barrieren zu überwinden und Bewegung zu ermöglichen, spontan und mit dem Material, das gerade zur Verfügung steht. Dort entstehen dann aus Kies aufgeschüttete Rampen, aus Latten und Brettern gestapelte Behelfsarchitekturen.
Die Regulierung der Bewegung im Raum durch Rampen, Stege, Barrieren oder Abstandhalter ist in den Arbeiten von Kriz Olbricht wiederkehrende Referenz. In Lüneburg montierte er zwischen den Betonsäulen in einem ehemaligen Supermarkt, den der Kunstverein als Ausstellungsraum nutzte, eine Hochwasserschutzwand aus massiven Holzbalken, die nicht nur die Bewegung kanalisierte, sondern auch den Blick. Im Freiburger E-Werk überbrückte er eine kleine Bodenschwelle mit einem Steg aus Holz und Teerpappe, der als horizontales Bildobjekt in den Raum ragte, welches wiederum auf eine nach dem Skateboarder Gou Miyagi betitelte Betonrampe an der Wand zulief, Fragment einer Halfpipe, konstruiert aus Holzabfällen aus dem Keller. Alles ist hier in Bewegung. Das Material, der Körper, der Blick, die Referenzen.
Cut
Aus dem Zusammenhang reißen / In den Zusammenhang schmeißen
– Diedrich Diedrichsen7
Die Kartons, die tagsüber zusammengefaltet hinter Verteilerkästen an der Wand lehnen, zwischen Seitenpfosten klemmen, auf Treppen oder unter Bänken liegen, fallen im Straßenbild kaum auf. Graubeige verschwinden sie in den Schatten der Stadt, unbemerkt von den Blicken der Menschen. Als Architekturen im Stand-By-Modus warten sie darauf, entfaltet zu werden, sobald die Nacht anbricht.
Vor dem Eingang der Cité Internationale des Arts in Paris, wo Kriz Olbricht 2014 ein Atelierstipendium hatte, legten Obdachlose jeden Abend ihre Kartonagen aus und markierten damit für wenige Stunden das Terrain ihres Aufenthalts, das sie zum Essen und Schlafen für sich beanspruchten. Die Schnittkante der Kartons bildete so etwas wie die Kontur einer flüchtigen Behauptung von Privatsphäre im öffentlichen Raum. Oder anders: Ein schlichter Cut definierte die Grenze zwischen Innen- und Außenraum.
Für Olbrichts Arbeit sind solche Cuts ein wichtiges Instrument zur Erforschung der Orte, an denen er arbeitet. Manchmal dienen sie ihm dazu, um ganze Wände aus dem Ausstellungsraum herauszulösen und die Elemente an anderer Stelle neu zu platzieren, gewissermaßen als Vergegenwärtigung der spezifischen räumlichen und materiellen Bedingungen des Ausstellens selbst. Sie lehnen dann wie zum Abholen bereit vor einer zweiten Wand oder kanten aus ihren Einzelteilen neu arrangiert und aufgeständert in den Raum – wie Ripoff, ein Hybrid aus Display, Bild und Architekturfragment, das Olbricht unter anderem in der Villa Arson in Nizza realisierte.
An anderer Stelle nutzt er Cuts, um zu erkunden, was bei der Übersetzung unscheinbarer Formelemente aus dem öffentlichen Raum in den Kunstraum passiert. Zinc, zwei niedrige, in der Galerie betonierte Podeste, orientierten sich an den noch sichtbaren Spuren der früheren Nutzung des Ausstellungsraumes als Apotheke, erinnerten zugleich aber an ephemere Obdachlosenarchitekturen im öffentlichen Raum. Oder an Abstandhalter, wie sie in Museen am Boden vor den Wänden montiert werden, damit die Besuchenden den Bildern nicht zu nahe kommen.
Der Cut erlaubt eine Vervielfältigung der Perspektiven auf Form und Ort. Und das kann durchaus komisch sein. Etwa wenn Olbricht auf Asphalt ein Stück weißen Kachelboden verlegt, ungeachtet der Schachtabdeckungen, die er damit versiegelt. Noch radikaler intervenierte er 2016 mit seiner Arbeit für die Gruppenschau „A Journey from a sweeping gesture to a lasting effect“ in der gerade eröffneten Vitrine Gallery in Basel. Olbricht betonierte hier ein schroffes, massives Betonpodest im Innen- und Außenraum und ignorierte so die vom Schaufenster vorgegebene Grenze des transparenten Neubaus. Wo war hier der Ort der Arbeit: im Kunstraum oder im öffentlichen Raum, sowohl als auch, weder noch? Ohne Funktion und nur scheinbar ohne Rücksicht auf den Kontext platziert, wirkte diese Arbeit wie ein Fremdkörper im ambitionierten städtebaulichen Umfeld: Fake-Ruine, gezielte Fehlkonstruktion, Sockel zur Präsentation des bestehenden Gebäudes und mögliches Fundament für Kommendes in Einem.
Float
Floating in pieces, down here and all over the dry land
– Jana Sotzko8
Steine, Schotter, Ameisen, Gras. Hin und wieder eine Pfütze, ein paar Plastikfetzen, Laub. Die Welt, die wir beim Wandern mit dem Blick auf den Boden tatsächlich erfassen, ist weniger romantisch als die Vorstellung, die wir uns vom Wandern als einem performativen Akt der Horizonterweiterung machen.
Wenn Kriz Olbricht unterwegs ist, hat er oft die Kamera dabei. Sie dient ihm zur Dokumentation von Formen, Zuständen oder Konstellationen, die ihm beim Gehen durch Stadt- und Kulturlandschaften auffallen. Meist bewegen sie sich nur knapp oberhalb der Schwelle der Wahrnehmbarkeit. Offen für Unerwartetes registriert er hier das stille Nebeneinander der Dinge und die von Menschen ausgetüftelten Strategien der Anpassung an ihre Umgebung. Olbricht versteht diese Fotos nicht als eigenständige Arbeiten, eher als Notizen aus einer Welt im Augenwinkel, als mögliche Antworten auf die Frage, die man frei nach Fischli/Weiss stellen könnte: Was ist in der Landschaft, wenn ich nicht da bin?9
Und auch: Was sind das für Gegenden, die plötzlich an den unscharfen Rändern zwischen bewohnter und unbewohnter Zone auftauchen, dort für kurze Zeit eine Außengrenze markieren, um dann von weiteren Peripherien umwuchert zu werden? Kann man sie noch Landschaft nennen – oder müsste man einen völlig neuen Begriff für sie finden, weil sich zwischen all den Dingen, die sich dort angesammelt haben, längst kein sinnvoller Zusammenhang von Natur und Kultur mehr herstellen lässt, wie wir es im herkömmlichen Verständnis von Landschaft eigentlich erwarten?
Die Surrealisten hatten für das unfertige Gelände, das sie um 1930 in den Entwicklungsgebieten von Paris vorfanden, den Begriff „terrain vague“ geprägt. Er repräsentierte für sie die Übergangszone zwischen Mensch und Natur, ein Niemandsland ohne Bestimmung, in dem sich alle Spuren der Erinnerung und der Ordnung im Ungefähren verloren und dessen Landschaft deshalb für sie zu einer idealen Metapher für das Unbewusste wurde. Auf einer Fotografie von Man Ray10 erscheint dieses Gelände als eine wüste Brache, in der die verstreuten Überreste aus Natur und Zivilisation vor allem eines bezeugen: die vollständige Abwesenheit ihres Grundes.
Für den Landschaftsarchitekten und Botaniker Gilles Clément macht genau das die Brache zur Ressource für die Zukunft. Wie der Urwald und das Reservat ist sie Teil dessen, was er die Dritte Landschaft nennt, „ein Territorium jenes Refugiums der Artenvielfalt, die sonst über all verjagt wird.“11 Das vergessene Stück Vegetation, das außerhalb der Reichweite der Maschinen und des Gestaltungswillens der Menschen liegt, ist ein Ort, für den sich Kriz Olbricht schon seit langem interessiert. 2016 machte er sich anlässlich eines Ausstellungsprojekts in einem leer stehenden Wohnhaus in Nordheim vor der Rhön zusammen mit David Semper auf den Weg in die Umgebung, um dort in allen vier Himmelsrichtungen im Abstand von je einer Bayrischen Meile – knapp 7,2 Kilometer – jeweils einen Betonpfosten samt Fundament in die Landschaft zu gießen. Kalkül und Zufall reichen sich hier die Hand: Die Festlegung von Richtung und Entfernung, ausgehend von einem verlassenen Haus in einem entlegenen Dorf in der Rhön, führte die beiden in unbekanntes Terrain. Mitten im Nirgendwo – am Feldrand, auf einer Waldlichtung oder im Unterholz – definieren seither die Pfosten das Areal zwischen ihren Fundamenten als Raum zum Nachdenken darüber, was wir Landschaft nennen.
Leger und Träger, 2014
spatio, 2022
Dass die Landschaft immer Vorstellungs-, Handlungs- und Erfahrungsraum zugleich und deshalb ständig in Bewegung ist, thematisierte Olbricht 2022 gemeinsam mit Anna Schütten in einer performativen Arbeit. Anlässlich der Bammerthüsli Kunst Projekte, zu denen er mehrere Kunstschaffende eingeladen hatte, in ausgewählten Weinberghäuschen in der Umgebung von Müllheim Arbeiten zu realisieren, entwickelten Olbricht und Schütten eine Reihe von Public Walks unter dem Titel spatio. Was sie interessierte, war die Frage, wie sich beim Spaziergang durch die Reben Landschaft formen würde, mit Blick auf die Wirtschaftswege und in die Weite, mit dem Knattern der Trecker im Ohr, der Sonne auf der Haut und dem schwefeligen Geruch der Schädlingsbekämpfung in der Nase. Hier fiel alles zusammen, was Landschaft sein kann: imaginierte Idylle, agrarisches Industriegebiet und touristische Attraktion. Und an den Rändern und in den Zwischenräumen ihre Negativform, ihr Potenzial: die unbemerkt wuchernde Brache.
Jam
Time and how it moves is a product of people working together
– Asher Gamedze12
In der Bildhauerhalle im Freiburger E-Werk stehen vier selbstgebaute Bänke zwischen still vor sich hin wuchernden Ateliersituationen der Künstlerinnen und Künstler, die hier arbeiten. Sie rahmen ein Stück schwarz-weiß karierten PVC-Boden, wie ihn B-Boys als temporäre Bühnen zum Break Dance an öffentlichen Orten auslegen. Darauf stehen verteilt ein paar leere Flaschen. Es sind Relikte des gemeinsamen Abhängens am Vorabend. Heute ist ein neuer Tag. Und morgen kann hier schon alles wieder ganz anders aussehen. Je nachdem wer kommt, wer geht, wer bleibt.
Claim, 2017
Claim nannte Kriz Olbricht das sich ständig verändernde Setting, das er 2017 für vier Tage im Rahmen einer Künstlerresidenz an diesem Ort der künstlerischen Produktion einrichtete. Es war Beobachtungsposten und Sprechlabor zugleich. Ein öffentlich zugängliches Meta-Atelier zum kollektiven Nachdenken über künstlerische Prozesse, über das Ausstellen und die Frage, warum ein Kunstwerk seine endgültige Form erst im Gespräch findet.
Claim steht in einer Reihe von präzise inszenierten Zuständen, die dieses Verhältnis von Ort und Produktion, Rezeption und Reflektion auf unterschiedliche Weise herausfordern. In Blind Pig etwa, einem für drei Jahre als Bar und Bühne im Kunstverein Freiburg genutzten Kubusfragment aus Holz, ließ Olbricht das Karomuster vom Boden auf das Podest und die Tresenwand emporkriechen – auch als stille Referenz an die legendären Manifestationen der Gruppe BMPT um Daniel Buren, die im Paris der späten Sechziger gezielt das Format der Ausstellung in Frage stellte und stattdessen kurzfristige Kollaborationen in Echtzeit lancierte.
Es sind solche Zustände des Zusammenspiels, die Olbricht interessieren – hierarchiefrei und offen, konzentriert und wie in der improvisierten Musik auf die Selbstregulierungskräfte des Kollektivs vertrauend. In seinen Settings, die meist auf vorgefundene Situationen reagieren, vermessen die Beteiligten die Zeit und den Raum des Möglichen durch gemeinsames Handeln.13
Darin zeigt sich auf subtile Weise immer auch eine Kultur der Gastfreundschaft, die Olbrichts künstlerische Praxis prägt und die manchmal selbst den Charakter einer Arbeit annimmt, etwa wenn er alle Beteiligten einer Gruppenschau um je einen linken Schuh bittet. Die knotet er dann an den Schnürsenkeln zusammen und hängt sie über ein im Raum gespanntes Drahtseil wie US-amerikanische Kleindealer in den Neunzigern, die mit dieser Geste ihr Revier markierten. Man könnte darin eine Parodie auf die szenetypischen Kommunikationsformen des Ein- und Ausschlusses sehen – oder ein Symbol für die entspannte Verbindung von Kunst und Komplizenschaft, die hier ihr Publikum sucht wie eine Band, um gemeinsam eine gute Zeit zu verbringen.
Dieses Gefühl einer auf der Ebene von Freundschaft erzielten Übereinstimmung, die den künstlerischen Prozess begleitet, prägt viele der von Olbricht initiierten Kollaborationen, auch die 2022 realisierten Bammerthüsli Kunst Projekte im Markgräflerland. Dazu lud er sechs befreundete Künstlerinnen und Künstler ein, je eine ortsbezogene Arbeit in einem der dutzendfach in den Reben errichteten Weinberghäuschen zu entwickeln, die früher den Bannwarten als Unterstand bei ihrer Arbeit dienten, dem Schutz der Trauben vor Vögeln und Dieben. Was Olbricht interessierte, war die Verschränkung von Architektur, Landwirtschaft und Eigentumsrecht, von geografischer Verortung und einer bestimmten Vorstellung von Landschaft, die sich hier beobachten ließ. Zugleich erlaubte das gemeinsame Arbeiten an individuellen Projekten in den weit voneinander entfernten Häusern ein Zusammendenken von Orten als „momentane Konstellation von festen Punkten“ und Raum „als Geflecht von Elementen, die sich bewegen und deren Bewegung [den Raum] in ihrer Gesamtheit erfüllen“, wie Michel de Certeau es in „Die Kunst des Handelns“ beschrieb: „Der Raum ist ein Ort, mit dem man etwas macht“14. Sind es viele Orte, die sich aufeinander beziehen, entsteht ein Kommunikationsraum.
Blind Pig, 2018
Die Bammerthüsli Kunst Projekte sind typisch für Olbrichts verbindende Arbeitsweise, die oft an die eines Jazzmusikers oder des Mitglieds einer Rap-Crew erinnert – eloquent und eigensinnig, mit unverkennbarer Handschrift und zugleich immer darauf bedacht, Kontrolle abzugeben, angewiesen zu sein auf die anderen, aufzugehen in der Gruppe. Das gilt auch für die Lokale 01, ein Projekt das Olbricht 2020 im Rahmen der trinationalen Jahresausstellung Regionale gemeinsam mit dem Basler Künstler Jacob Ott kuratierte. Die beiden luden acht Künstlerinnen und Künstler ein, die vorstädtische Umgebung des Ausstellungshauses als Experimentierfeld zur künstlerischen Erkundung des umliegenden Stadtteils zu nutzen. Abseits des Kunstraums, der bis auf einen mit einer Aufsichtsperson besetzten Infotresen leer blieb, sickerte die Schau in Kneipen und Geschäfte, schaute im Sparkassen-Foyer und beim Pizza Grill vorbei und führte dabei so beiläufig wie exemplarisch vor, dass die Grenzen zwischen Innen- und Außenraum fließend sind und grundsätzlich jeder Ort ein Ort der Kunst sein kann.
Nicht ohne Grund erzeugen Olbrichts Kollaborationen flüchtige Momente von großer Intensität. Oft ist hier alles in Bewegung und deshalb auch alles, was sich ereignet, im gleichen Moment wieder vom Verschwinden bedroht. Beispielhaft dafür ist die prozesshafte 24h-Arbeit Asado de Obra, eine Art kollektive Performance des 2. Hauptsatzes der Thermodynamik, hier am Beispiel der Umwandlung mechanischer in soziale Energie und Wärme. Anlässlich des E-Lab der Galerie für Gegenwartskunst Freiburg 2021 baute Olbricht dafür zusammen mit dem Karlsruher Künstler Nils Weiligmann einen improvisierten Grill aus Armierungseisen, Ziegeln und Beton. Die für den Betonguss verwendeten Holzschalungen dienten den beiden später als Brenngut, über dem sie das Gemüse und das Fleisch grillten, das später in den Mägen des Publikums verschwand, bevor das wenige verbleibende Material schließlich für neue Nutzungen wieder aufbereitet und verschenkt wurde.
Asado de Obra, 2021
1. „Someday, not soon, there will be another kind of painting, far from the easel, far from beyond the easel, since our environment indoors is four walls, usually flat. Color to continue had to occur in space.“, Donald Judd, Some aspects of color in general and red and black in particular, in: Artforum, Summer 1994, S. 243.
2. Ludger Schwarte, „Politik des Ausstellens“, in: Karen van den Berg / Hans Ulrich Gumbrecht: Politik des Zeigens, Wilhelm Fink Verlag, München 2010, S. 129.
3. Kurtis Blow, The Breaks, 1980, Mercury Records.
4. Georges Perec, „Das Infra-Ordinäre“, 1973, in: Warum gibt es keine Zigaretten beim Gemüsehändler?, Diaphanes Verlag, Zürich 2015.
5. Georges Perec, Versuch, einen Platz in Paris zu erfassen, Diaphanes Verlag, Zürich 2023.
6. Walter Benjamin: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, Gesammelte Schriften Bd. I, Teil 2, Frankfurt/Main 1980, S. 505, in: Jan Turnovsky: Die Poetik eines Mauervorsprungs (Bauwelt Fundamente), Birkhäuser Verlag, Basel 1987, S. 51f.
7. „Das Aus-dem-Zusammenhang-Reißen / In-den-Zusammenhang-Schmeißen ist das tiefste Gemeinsame all der Praktiken, die man unter Subkulturen, Gegenkulturen etc. zusammenzufassen versucht hat“, Diedrich Diederichsen in: Texte zur Kunst, Nr. 8, Köln 1992, S. 113.
8. Point No Point (Jana Sotzko), Drift, 2019, Späti Palace.
9. Fischli/Weiss, „Was ist in meiner Wohnung wenn ich nicht da bin?“ aus: Fragen Projektion, 1981-2003, vgl. Fischli/Weiss, Findet mich das Glück?, Verlag der Buchhandlung Walther König, Köln 2002.
10. Man Ray, Terrain vague, 1932.
11. Gilles Clément, Manifest der Dritten Landschaft, Merve Verlag, Berlin 2010, S. 11.
12. „Time and how it moves is a product of people working together.“, in: Asher Gamedze, Turbulence’s Pulse, 2023, International Anthem Rec.
13. „The time itself, the feeling of time, time’s movement or signature, sense of time, in front, behind, pushing and pulling in different directions, is very clearly produced by the group of musicians playing together. Their individual times working and weaving to constitute and articulate a sense of ensemble time (…).“, in: Asher Gamedze, Turbulence’s Pulse, 2023, International Anthem Rec.
14. Michel de Certeau, Die Kunst des Handels, Merve Verlag, Berlin 1988, S. 218.
Texte erschienen in Blackbook, Salon Verlag, Köln, 2023.