Dietrich Roeschmann
Natürlich ist es eine maßlose Übertreibung, wenn Uta Pütz und Kriz Olbricht, die beide seit Kurzem das Meisterschülerdiplom der Akademie für Bildende Künste in Karlsruhe in der Tasche haben, ihre gemeinsame Schau im Freiburger Kunsthaus L6 Full House nennen. Nichts kündet hier von den Menschenmassen, mit denen das Ausstellungsplakat wirbt, nichts von möglichen Materialschlachten, die der Titel assoziiert. Auch das verrauchte Hinterzimmer fehlt, wo verschlagene Typen unter tief hängenden Lampen ihre Pokerblätter auf den Tisch knallen.
Stattdessen herrscht hier die luftige, fast klinische Atmosphäre eines Operationssaals: weiße Wände, frisch gereinigter Betonboden, grelle Neonröhren unter der Decke. Die Dinge, die sie beleuchten, wirken so fragil, dass man das Gefühl hat, sie könnten allein durch das leise Flirren des Lichts im nächsten Moment in sich zusammenfallen: Am Boden liegt ein dünnes Kupferrohr, in vier Handgriffen zu einem Gestell gebogen, auf dessen Ende ein alter Besenstiel balanciert. Daneben ringt eine aus Alustangen und hölzernen Fundstücken komponierte Raumzeichnung um ihr Gleichgewicht, flankiert von zwei an Holzlatten montierten Hartfaserplatten, die wie achtlos in den Raum geworfene Plakate einer längst vergessenen Demonstration von der Wand rutschen.
Erlaubnis zum Stillliegen hat Uta Pütz ihre im bevorstehenden Zusammenbruch gefrorene After-Protest-Installation genannt, und auch die Titel ihrer anderen Arbeiten lesen sich wie lakonische Allegorien auf diesen seltsamen, jedem Zeitgefühl entrückten Moment zwischen Gelingen und Scheitern, den ihre sorgfältig arrangierten Plastiken mit schlafwandlerischer Sicherheit als Dauerzustand im Raum etablieren. Das passende Traumlicht dazu liefert eine Fotoserie mit zahllosen auf- und untergehenden Sonnen, die Pütz im Internet fand und nun stark vergrößert als grob gepixelte Schwarz-Weiß-Reproduktionen an den Wänden präsentiert. Man könnte sie auch als versteckten Hinweis auf den Ausstellungstitel verstehen: Full House? Um einen Raum bis zum Bersten zu füllen, kann man große Menschenmengen einladen oder riesige Materialvolumen bewegen. Doch es reicht auch, die immateriellen Kräfte sichtbar zu machen, die uns den Raum als Raum wahrnehmen lassen – wie das Sonnenlicht. Oder die Gravitation. Während Uta Pütz deren Grenzen gewissermaßen in plastische Haikus übersetzt, die auf poetische Weise die intime Nähe zum Kollaps suchen, stellt Kriz Olbricht sie in einem riskanten Manöver auf die Probe, das mit minimalen Mitteln den gesamten Raum in Bewegung versetzt. Seine Arbeit Stag besteht aus einem 25 Meter langen Stahlseil, das er im Foyer des Kunsthauses verankert hat. Durch eine brachiale Bohrung in der Wand führt es diagonal durch die Ausstellungshalle, wird dort an der Mittelwand um einige Grade abgelenkt und ist schließlich in einen zweiten, daumendicken Stahlhaken unter der Decke am anderen Ende des Raumes eingespannt. Ein rostrot lackiertes Aluminiumprofil, das wie eine malerische Setzung an der Wandecke klemmt, an der das Stahlseil seine Richtung ändert, lässt erahnen, welche Zugkräfte hier wirken. Ohne das schützende Metall, das sich unter dem enormen Druck zentimeterweit in den Raum biegt, würde das Seil die Trennwand vermutlich wie Butter durchschneiden. Bräche hingegen einer der Haken, dürfte die schiere Reaktionskraft den gedrehten Stahl wie eine Peitsche durch den Raum knallen lassen. Natürlich bleibt – wie bei Uta Pütz – auch hier der Zusammenbruch des statischen Systems aus. Doch die extreme Spannung, unter der es steht, ist so präsent, dass es schwer fällt, sich ihrem raumgreifenden Kraftfeld zu entziehen. Langsam beginnt man zu ahnen, warum der Titel dieser Schau doch alles andere als eine Übertreibung ist: Voller als jetzt war das Haus selten.
Text zur Ausstellung Full House, Kunsthaus L6, Freiburg; erschienen in der Badischen Zeitung, Freiburg, 2014.